Ich habe natürlich nicht die 50 Seiten durchgelesen und gebe einfach mal meinen Senf mittenrein:
Ich lebe seit 2016 in Leipzig, einer Großstadt in der "Leipziger Tieflandsbucht", in der sehr viel Fahrrad gefahren wird - weil es eben relativ flach ist. Deswegen wird ziemlich viel für den Radverkehr getan und deswegen besteht hier eine für mich als Zugezogenen zunächst sehr überraschende, große Bereitschaft zur Rücksichtnahme auf Fahrradfahrer durch andere Verkehrsteilnehmer. Kurz nach meinem Umzug nach Leipzig bin ich mal eine leichte Steigung (die "Tieflandsbucht" in Leipzig ist tatsächlich sanft gewellt) hochgeradelt und hörte auf einmal merkwürdige metallische Geräusche hinter mir, mit denen ich zunächst nix anzufangen wusste. Alsbald sah ich mich um: es war eine Straßenbahn, die mit ca. 10 kmh hinter mir her kroch, ohne zu klingeln oder sonst wie zu drängeln. Ich schämte mich sehr, und bei der nächsten Lücke in den parkenden PKWs fuhr ich rechts ran. Der Tramfahrer bimmelte und winkte freundlich. Das war so ein erstes Erlebnis gewesen, dem viele, viele folgten und auch ich bemühe mich um Rücksichtnahme auch gegenüber dem Kraftverkehr. Und das funzt im großen und ganzen sehr gut hier. Es empfieht sich aber in konfliktträchtigen Situationen auf die Kennzeichen der Kfz zu achten - ausserhalb von Leipzig gelten andere Regeln ...
In Leipzig jedoch sind das Hauptproblem für den Radler nicht etwa der Kraftverkehr - sondern es sind die anderen Radler. Fährt man in die City, dann steht man urplötzlich an einer Ampel in einem Pulk von 5, 10, 20 anderen Radlern, die bei Grün alle auf einmal losfahren. Ich meide inzwischen die "Magistralen" in der Innenstadt, nehme lieber Umwege in Kauf und schmuggele mich dann so durch.
Dann gibt es da so einen Typ von Radlern, die sich selbst wohl "Fahrrad-Aktivisten" nennen. Sie sind regelmässig stahlhart austrainiert, fahren single-speeds, high-end-MTBs oder allerlei Retro-Aufbauten und verhalten sich total assozial: "Die Straße gehört uns!" lautet das Motto ihrer Fahrrad-Demos. Sie leben in dem Bewußtsein, daß sie durch ihre Art des Fahrrad-Fahrens die Welt vor dem Untergang durch den Klimawandel schützen und daher immer im Recht sind und keine Rücksichten zu nehmen haben, auch nicht auf andere Radler, die nicht für das Klima aktiv sind und nicht zu Demos fahren.
Dann gibt es da noch so 1 Sorte, nämlich die Renner, die nichts besseres zu tun haben, als ihr Training ausgerechnet zur Hauptverkehrszeit an den Leipziger Seen zu veranstalten, wo ein irrsinniger Betrieb herrscht. Von effektivem Training kann da keine Rede sein, aber man kann wunderbar alle anrotzen: "Mach Platz, verpiss Dich Du Arschloch usw". Ausserdem haben Renner die Angewohnheit, grundsätzlich mit 0,5 mm Sicherheitsabstand zu überholen, auch dann, wenn ausser mir selbst und dem Renner niemand auf der Straße ist. Sie müssen ja üben für den Wettkampf ! Bei günstigem Wind hört man sie rechtzeitig und kann sich einrichten. Aber immer mehr wächst der Wunsch in mir, ausgerechnet dann mal niesen zu müssen, wenn so ein irrer Renner mal wieder fast auf Tuchfühlung an mir vorbei will. Für Klingel oder Beleuchtung ist an einem Rennrad sowieso kein Platz, ist viel zu viel Gewicht, das smartphone ist schon schwer genug !
Und die schrecklichste Sorte der Verkehrsteilnehmer ist das, was ich die "Scheißfamilje" nenne: 2 Fahrräder mit Anhängern stehen quer auf der Fahrbahn, darüber 2 Erwachsene, völlig starr und leicht vornüber geneigt. Das sind die Eltern. Drumrum rasen 2,5 Kinder im Kindergartenalter, von denen sich 1,3 Kinder grad auf die Fresse gelegt haben und furchtbar brüllen. Dann gibt es noch 2 Hunde an endlos langen, straff gespannten Laufleinen, die nicht hören, aber aggressiv kläffen und die Blockade auf 10-15 m in alle Himmelsrichtungen erweitern. Die Eltern können leider nichts tun: sie sind vollends von ihrem smartphone in Anspruch genommen. Wahrscheinlich diskutieren sie gerade in ihrer Whatsapp-Eltern-Gruppe, wie sie die Situation bewälten können, ohne ihre Kinder zu traumatisieren.