Ist es richtig, dass bei dem völlig rechtskonformen Verhalten eines Verkehrsteilnehmers trotzdem eine Teilschuld im Raum steht?
Beispiel: Kfz. mit vorgeschriebener Geschwindigkeit unterwegs, verletzt ein zwischen parkenden Kfz. nicht sichtbaren,
auf die Fahrbahn tretenden Fußgänger, räumt bei dem Versuch die Kollision noch zu verhindern noch ein paar parkende Autos ab,
und verletzt sich selbst schwer. Wie gehen Gerichte damit um?
Wenn es so ist, wird da unterstellt, dass der Kfz.-Betreiber immer mit dieser Situation rechnen muß, und gegebenenfalls langsamer
als vorgeschrieben fahren muß, und mindert das diese angenommene Teilschuld?
Wenn ich richtig liege, wird bei dieser Betrachtung dem Umstand "Starker/schwacher Verkehrsteilnehmer" Rechnung getragen?
Gilt das auch im Verhältnis Autofahrer/Fahrradfahrer?
Ersetze in Deinem Erfahrungsbericht Radfahrende durch Autofahrende, und zu Fuß gehende durch Radfahrende.
Interressiert mich jetzt sehr und bedanke mich schon mal für eine Antwort.
Pauschal lässt sich das nicht beantworten, es kommt immer auf die konkrete Verkehrssituation an (z.B. Breite der Straße, Einsehbarkeit der Verkehrssituation u.v.m.). Bei Pkw hast du grundsätzlich erst einmal die Haftung aus der Betriebsgefahr, die nicht auf ein Verschulden des Pkw-Fahrenden abstellt. Die Haftung aus der Betriebsgefahr beruht auf dem Gedanken, dass ein Kraftfahrzeug ein grundsätzlich gefährlicher Gegenstand ist, von dem unabhängig vom Verhalten des Fahrenden immer die Gefahr, andere Rechtsgüter zu schädigen, ausgeht.
Um der Haftung aus der Betriebsgefahr ganz zu entgehen, muss der Pkw-Fahrende beweisen, dass der Verkehrsunfall für ihn unabwendbar war. An diesen Unabwendbarkeitsnachweis stellt die Rechtsprechung sehr strenge Anforderungen. Da stört schon der Hauch eines eigenen Fehlverhaltens.
Auch zu Fuß gehende dürfen natürlich nicht einfach so die Fahrbahn betreten und überqueren, egal ob zwischen parkenden Pkw oder nicht. Auch zu Fuß gehende müssen natürlich darauf achten, dass dies gefahrlos möglich ist.
Leitsätze OLG Dresden, Urteil vom 8. März 2022 – 14 U 1267/21
1. Ein Fußgänger darf gemäß § 25 Abs. 3 StVO die Fahrbahn nur unter Beachtung des Vorrangs des Fahrzeugverkehrs überqueren. Dabei hat er den fließenden Verkehr vor dem Betreten und auch beim Überqueren der Fahrbahn genau zu beobachten. Dabei darf er auch zunächst nur bis zur Mitte gehen und dort den von rechts kommenden Verkehr abwarten. Verstößt der Fußgänger gegen seine Verpflichtung aus § 25 Abs. 3 StVO, so handelt er in der Regel grob fahrlässig.
2. Bei einem Verschulden des beklagten Fahrers wegen Verstoßes gegen das Sichtfahrgebot, einer Berücksichtigung der Betriebsgefahr des Fahrzeugs und einem erheblichen Mitverschulden des geschädigten Fußgängers wegen Verstoßes gegen
§ 25 Abs. 3 StVO kann die Annahme einer Haftungsquote von 50:50 angemessen sein.
Soweit das OLG Dresden ein Verschulden des beklagten Fahrers wegen Verstoßes gegen das Sichtfahrgebot erwähnt, kommt damit zum Ausdruck, dass er den Unabwendbarkeitsnachweis nicht geführt hat, im Gegenteil, die Betriebsgefahr des Pkw ist dadurch sogar erhöht.
Wenn der Pkw-Fahrende in einem solchen Fall ausweichen muss, um eine Kollision mit dem zu Fuß gehenden zu vermeiden und dabei auch sich selbst verletzt und noch Rechtsgüter Dritter beschädigt, verändert sich die Beurteilung erst einmal nicht. Gegenüber Dritten, z.B. Eigentümer der beschädigten parkenden Pkw, wird sich der Pkw-Fahrende aber nicht darauf berufen können, er habe einem grob fahrlässig die Fahrbahn überquerenden zu Fuß gehenden ausweichen müssen, wenn der Verkehrsunfall für ihn nicht unvermeidbar war. Was die eigenen Verletzungen und Schäden an seinem Pkw betrifft, würde die Mithaftung des zu Fuß gehenden greifen. Der Dritte könnte sowohl den Pkw-Fahrenden als auch den zu Fuß gehenden als Gesamtschuldner in Haftung nehmen.
Leitsätze eines Urteils des LG Hamburg, Urteil vom 27. Juli 2018 – 323 O 55/18
1. Bei einer Fahrbahn ohne Überquerungshilfe muss ein Fußgänger den fließenden Verkehr nicht nur bei der Einleitung der Überquerung beachten, sondern sich spätestens ab der Straßenmitte noch einmal vergewissern, ob ein gefahrloses Weitergehen möglich ist.
2. Dunkelheit, am Fahrbahnrand parkende Fahrzeuge oder das Vorhandensein von Garageneinfahrten haben grundsätzlich nicht zur Folge, dass die zugelassene Geschwindigkeit von Kfz nicht mehr erreicht werden darf.
3. Die Betriebsgefahr des Kfz kann hinter einem erheblichen Verschuldensbeitrag des Fußgängers vollständig zurücktreten. Beachtet ein Fußgänger beim Überqueren der Fahrbahn ohne nachvollziehbaren Grund sich nähernde Fahrzeuge nicht, handelt er in der Regel grob fahrlässig.
Auch hier würde der Pkw-Fahrende gegenüber den Eigentümern der parkenden Pkw aus der Betriebsgefahr haften. Dass diese im Verhältnis zum zu Fuß gehenden wegen dessen groben Verschuldens zurücktritt, bedeutet nicht gleichzeitig, dass dem Pkw-Fahrenden der Unabwendbarkeitsnachweis gelungen sein muss.
Auch im Verhältnis Pkw <=> Radfahrender stehen sich Haftung aus der Betriebsgefahr und (Mit)verschuldenshaftung gegenüber. Bei grob fahrlässigem Verhalten des Radfahrenden kann auch die vom Pkw ausgehende Betriebsgefahr unter Umständen ganz zurücktreten und ein Radfahrender allein haften. Beispiel: überfährt der Radfahrende eine Straßenkreuzung bei rot und kollidiert mit einem bei grün fahrenden und deshalb bevorrechtigen Pkw ist klar, dass die Betriebsgefahr des Pkw hinter die "Straßenverkehrstodsünde" des Radfahrenden selbst dann zurücktreten muss, wenn ein quasi über dem Verkehrsgeschehen schwebender und objektiv beobachtender Dritter den Rotlichtverstoß des Radfahrenden vorausgesehen und deshalb vermieden hätte.